Über Geheimwissen. Eine Exkursion nach unten. (Teil 4)

Vierte Etappe: Die Metamorphose. Über Reflektion.

Um an dieser dunklen und zugewucherten Stelle überhaupt weiterreisen zu können, werden wir neben der Heckenschere noch weitere Spezialausrüstung brauchen. Ich habe Nachtsichtgeräte mitgebracht. Ihr Vorteil: Wir erkennen etwas in der Dunkelheit. Ihr Nachteil: Alles, was wir sehen ist entweder Vergangenes oder Imaginiertes. Die Nachtsichtgeräte können zwar die theoretische Klarsicht verschaffen, aber eben nur in der Theorie. Die tatsächlichen Geheimnisse, wenn es denn welche gibt würde der Dissimulant an dieser Stelle noch einfügen, werden wir damit nicht erkennen. An dieser Stelle wird diese Abenteuerreise zu einer Fantasy-Reise und wir werden nun Dinge können, die wir eigentlich nicht können. Zum Beispiel: uns lautlos bewegen, unentdeckt bleiben und uns über solche Hindernisse hinweg setzen, die zu unserer Abwehr errichtet worden sind.

Ich verteile also die Nachtsichtgeräte an die Reisenden. Monika währt ab. „Nein, danke, das brauche ich nicht. Ich gehe jetzt zurück. Hier gibt es nichts zu sehen.“ Friedrich zuckt mit den Schultern und entscheidet, ihr zu folgen. Monika und Friedrich löschen das Feuer und treten die Rückkehr an.

Karl pustet laut die Luft aus. „Gut, dann geht ihr nur. Ihr werdet nie irgendein Geheimnis aufdecken! Ich werde dieser eigenartigen Frau folgen. Nie im Leben ist die hier nur zum Spazieren!“ Er schnappt sich ein Nachtsichtgerät und zieht mich am Ärmel. „Los jetzt, schnell! Sonst verlieren wir sie noch!“

Wir laufen also weiter. Karl prescht durch das Unterholz, biegt bald links, bald rechts ab. Wenn die Dornen der Hecke auf der Bergspitze ihn ein paar Kratzer verpasst haben, ist das nichts zu den Büschen und spitzen Ästen, die nun seine Kleider zerreißen und in sein Gesicht peitschen. Ich frage ihn, ob er eine Ahnung hat, wohin er überhaupt läuft. Aber er antwortet nicht. Dann sprintet er über einen Fels und fällt eine Kuppe hinab. „Verdammt!“, ruft er und reibt sich das aufgeschlagene Knie. „Wo ist sie denn nur?“, jammert er und lauscht in den Wald. In der Ferne der Dunkelheit ist es still. Ich setze mich neben ihm auf die kalte Erde. Ich sage: „Karl, scheinbar hast du vorhin nicht genau aufgepasst. Du kannst hier stundenlang herum rennen, ja vielleicht monatelang oder dein ganzes Leben. In der Kryptodoxie findest du nichts, es sei denn es will gefunden werden.“ Er schlägt wütend mit der Faust auf den Boden. „Aber irgendwann muss ich doch was finden. Sie können sich verstecken, aber ich kann sie suchen, sie aufspüren!“ Ich lege den Kopf zur Seite und denke darüber nach.

Ja, vielleicht könntest du das. Und was dann? „Dann weiß ich etwas, das vorher geheim war.“ Das ist korrekt, antworte ich. Aber was willst du damit machen? „Keine Ahnung, für etwas wird es schon gut sein, oder nicht? Ich könnte berühmt damit werden, zum Beispiel. Oder ich könnte verstehen, was sonst niemand versteht.“ Ich stehe auf und reiche ihm die Hand. „Komm mit.“, sage ich ihm. „Ich zeig dir was.“ Mit einem Seufzen richtet er sich auf. „Was denn noch? Ich hoffe endlich mal ein richtiges Geheimnis!“

Ich führe Karl tiefer in den Wald. Das Nachtsichtgerät zeigt uns an, dass in der Nähe Menschen sind. Eine Gruppe von Personen steht dort drüben hinter dem Buchen und Tannen zusammen. „Da ist sie!“, ruft Karl, denn er hat die junge Frau wiederentdeckt. Sie läuft in weiten Kreisen um die anderen herum, den Blick in die Ferne geheftet, aufmerksam und angespannt. Wir nähern uns leise der Gruppe. „Sie teilen etwas miteinander.“, zischt Karl aufgeregt. „Sie geben es vom einem zum anderen in die Hand. Da, sie zeigen darauf und erklären etwas dazu. Aber ich kann nicht verstehen was. Wir müssen näher ran!“ Das sind Symbole, Zeichen, die etwas bedeutet und auf etwas verweisen, das wir nicht kennen, flüstere ich und halte ihn an der Schulter zurück. Das, was sie miteinander teilen kann ein zum Beispiel eine Information über ein Ereignis sein, eine bestimmte Brille für das Sehen von Wirklichkeit, eine Körperpraxis, eine Ästhetik, oder eine Geschichte. Beobachten wir sie eine Weile, schlage ich vor.

Im inneren Kreis des verborgenen Geheimnisses sind diejenigen, die es bereits kennen. Darum stehen diejenigen, die davon wissen und es geheim halten, so wie die Frau, die zu uns ans Feuer gekommen ist. Siehst du die eine, dort drüben? Sie ist die Hüterin. Wir können sie daran erkennen, dass sie zwischen den Personen des inneren Kreises und den Wächtern hin und her läuft, denn sie ist es, die entscheidet wer zur Mitwisserin des Geheimnisses werden soll und wer sogar in den Inhalt des Geheimnisses eingeweiht wird. Schetsche schreibt über sie: „Diese Rolle findet man sowohl traditionell bei religiösem Geheimwissen als auch in der modernen Bürokratie, beim Militär und den Geheimdiensten – es sind […] Geheimnisträger höherer Stufe […].“ (ebd. 38.) Sie übermitteln das Wissen an andere, zum Beispiel unmittelbar und persönlich, was die sicherste Variante ist, oder über Medien (Texte, Bilder, Zeichen), die dann häufig verschlüsselt sind (etwa Geheimschriften).

Karl will sofort zu ihr rennen, aber ich halte ihm an der Kapuze seines Pullovers fest. „Wenn sie mich nicht einweihen will, dann klau ich eben ihre Bücher!“, faucht er und will sich von mir losreißen. Ich bin versucht, Karl mit einem dicken Ast zu Boden zu hauen, aber unterstehe dem Impuls. Stattdessen sage ich: „Geduld. Bevor du das machst, überleg doch mal, was du bisher über Geheimnisse gelernt hast. Was du über die Kryptodoxie bisher weißt.“ Er schnauft einen Moment lang durch. „Dass sie im Unsichtbaren Raum liegt. Dass sie nicht zu finden ist.“ Exakt, warum sehen wir sie gerade? „Weil wir die Nachtsichtbrillen tragen.“ Was zeigen diese Brillen? „Die Theorie. Nicht die Realität.“ Karls Schultern erschlaffen. „Also ist das keine echte Geheimgruppe. Sondern nur eine Illusion.“ Nein, keine Illusion, eine Fiktion. Das ist etwas anderes. Es ist eine Vorstellung von etwas, das so oder so ähnlich sein könnte. Wie alles vermittelte Wissen. Karl nickt. Was weißt du noch über die Kryptodoxie? Wie ist sie entstanden? „Weil Leute verbotene Dinge tun.“ Naja. Also nicht so ganz. Was genau meinst du. „Wegen den Tabus. Und wegen den anderen Deutungsmustern der Realität.“ Ok, also wer ist hier unterwegs? „Gefährliche Menschen?“ Ich zucke mit den Schultern. Ich würde sagen, das gilt für die Kryptodoxie, ebenso wie für die Orthodoxie. Versuch es noch einmal. Wer ist hier zwangsweise unterwegs? „Naja. Personen, die in der Orthodoxie nicht sein dürfen.“ Warum nicht? Was würde passieren, wenn die Kryptodoxie in die Orthodoxie überführt würde? „Chaos.“, sagt Karl und lehnt sich an einen Baum. „Es wäre das absolute Chaos.“ Ich nicke. Und was würde mit den Personen passieren, die sich hier getroffen haben? „Es wäre wohl ihr Ende. Entweder sie würden nur sozial ausgegrenzt werden, oder sogar in ihrem Leben bedroht.“ Wir schweigen eine Weile und schauen der Gruppe zu, wie sie ihr Geheimnis pflegt.

„Aber du hast dich selbst als Exorzistin bezeichnet vorhin. Es gibt Geheimnisse, die jeder wissen sollte.“, versucht es Karl jetzt erneut. Ich nicke wieder. Ja, das stimmt, manche Geheimnisse gehören gelüftet und somit zerstört, sage ich. Schetsche nennt die Massenvergewaltigung von Kindern ab den 1950er Jahren in deutschen pädagogischen Einrichtungen. „Das darf doch nicht passieren!“, sagt Karl und sieht mich vorwurfsvoll an. Ich gebe ihm natürlich Recht. Aber ebenso spricht er von Naturvölkern, die von Ethnologen zwar entdeckt wurden, von denen aber niemals öffentlich gesprochen wurde, weil dies das Ende für ihrer Existenz bedeutet hätte.

Die Sichtbarkeit von Wissen ist zwar mit Legitimität verknüpft. Das Legitime zeigt aber vor allem Machtbeziehungen an (was darf wirklich sein), und nicht das ethisch Korrekte. Nicht alles, was orthodox ist, ist ethisch korrekt. Nicht alles, was kyptodox ist, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Karl sieht nachdenklich aus. „Das Hell und Dunkel dieser Landkarte,“ setzt er schließlich an, „ist nicht zu verwechseln mit dem Schwarz und Weiß im Märchen. Mit Gut und Böse.“ Nein, das wäre ja auch zu einfach, oder? Ich könnte an dieser Stelle anfangen, über die Kategorien Gut und Böse zu diskutieren. Aber das wäre wohl eine andere Exkursion. „Aber … was mache ich jetzt damit?“ Es liegt eine gewisse Verzweiflung in seiner Stimmung. Er hält die Karte in den Händen und dreht sie zweimal im Kreis. „Sie führt mich weder zum Recht, noch zur Erkenntnis. Sie macht alles nur komplizierter!“ Ich stimme ihm zu. „Sollte die Wissenschaft die Welt nicht einfacher machen? Das hier macht es überhaupt nicht einfacher.“ Ich stimme ihm wieder zu. Er faltet die Karte zusammen und gibt sie mir zurück. „Du sagtest anfangs der Reise, es gäbe was zu gewinnen. Was ist jetzt damit?“ Ich schmunzle. „Warts ab“, sage ich. „Du wirst noch ein wahres Wunder erleben.“ Dann nehme ich ihm die Nachtsichtbrille ab. Karl rennt sofort gegen den nächsten Baum und wird bewusstlos. Zugegeben, das war unhöflich von mir. Aber den jammernden Karl den gesamten Weg zurück ertragen? Nein, das ist zuviel. Es gibt weniges, das so anstrengend ist, wie ein frustrierter Suchender.

Karl wacht auf dem sonnigen Hügel der Bergspitze auf. Er reibt sich die Augen und blinzelt gegen das blendende Licht. „Meine Güte, wie hell ist es denn hier!“ Er richtet sich auf und versteht, dass er zurück in der Orthodoxie ist. Die Enttäuschung liegt ihm schwer in den Knochen, hatte er doch erhofft als wahrer Abenteuer voller aufregender Geschichten und wertvollen Schätzen heim zu kehren. Er beschließt, sich etwas zu Essen zu suchen, das Reisen macht doch hungrig. Während er also aufsteht und den Weg in Richtung Bergstadt antritt, reibt er sich mehrfach die Augen. „Komisch“, murmelt er zu sich, denn irgendwas hat sich verändert. Jedes Mal, wenn er einen Gegenstand fokussiert, während er daran vorbei läuft, ist es, als könnte er es als Zeichnung sehen und hinter der Zeichnung sich auffächernde Lagen der einzelnen Schritte, wie dieses Objekt entstanden ist. Die erste Lage ist nur ein Raster mit der groben Form, die zweite hat Schattierung und lateinische Bezeichnungen, die dritte ist koloriert und mit Strichen unter Angabe einer Eigenschaft anderen Dingen zugeordnet, die vierte ist dreidimensional und die Notiz seiner Nützlichkeit und Funktion, die vierte hat einen Hintergrund der Umwelt, die fünfte sieht aus wie ein Daumenkino, in dem sich der Gegenstand veränderte im Laufe der Zeit. Und der sechste schließlich ist wieder die Wirklichkeit, wie er sie sonst immer gesehen hat. „Wahnsinn!“ Karl hat den Eindruck, als könnte er hinter die Dinge sehen. Als wäre die Wirklichkeit zwar da, aber auch gleichzeitig nicht da. Oder

als wäre für ihn erkennbar, wie sie sich zusammensetzt und geordnet ist.

Karl entschließt sich, seinen Weg fortzuführen. Er sieht sich um und während er so grob über die Dinge schaut, sieht zunächst  alles wie immer aus. Aber sobald er genauer hinsieht, kann er die Lagenpapiere erkennen und die Ordnung, in die sie hinein gezeichnet wurden. Als er dann seinen Blick von dem Nahen abwendet und in die Weite schweifen lässt, staunt er erneut. Wo er sonst nur die vertraute Wiese gesehen hat, kann er jetzt die Hecke sehen und hinter der Hecke das weite Feld und tief darunter den dunklen Wald. Es ist, als könnte er seine bloßen Augen als Fernglas nutzen. Karl schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Die ganze Welt hat sich verändert! Ich war doch nicht mal einen Tag weg! Und in der Zeit ist alles anders geworden!“ Ich lege Karl eine Hand auf die Schulter. Das stimmt so nicht ganz, sage ich ihm. Die Welt ist noch immer die selbe. Du bist nur ein anderer. Du hast, als du in der Heterodoxie und in der Kryptodoxie warst, etwas entwickelt. Es ist an dir kleben geblieben und jetzt gehört es dir. „Was soll das sein?“, fragt Karl, der nun erneut die Hoffnung fasst, einen Schatz gefunden zu haben. Es ist die Fähigkeit zu Reflektieren. Es ist die Weitsicht. Es ist der kritische Blick. Es ist die Mehrdimensionalität. Du siehst jetzt mehr als vorher. Karl nickt zufrieden. „Ja, das ist echt cool.“

Aber das ist nicht mal alles. Du hast den Radius deiner Comfort Zone vergrößert. Du hast über den Tellerrand, oder soll ich besser sagen, über den Heckenrand geblickt. Du wolltest verborgenes Wissen erlangen. Und das hast du. Außerdem hast du Offenheit, Mut und Neugierde bewiesen und somit erworben. Du hast Neues über die Welt gelernt und dadurch Neues über dich selbst. Und du hast dich nicht gescheut, Verantwortung für andere zu übernehmen. Karl streckt die Brust vor und fühlt sich direkt etwas größer. Er und alle anderen Mitreisenden sind als Helden heim gekommen. Sie haben sich tapfer durch Licht und Dunkelheit gekämpft, haben sich den schwierigen Fragen nach Wirklichkeit und Ethik gestellt und sind mit reicher Beute heim gekehrt.

Was machst du jetzt mit diesem Wissen? Wie wirst du es anwenden? Wann wirst du dich wie eine mutige Abenteurerin damit bewaffnen? Wann wirst du dich wie eine wahre Heldin weise entscheiden? Welche anderen Legenden wirst du in Zukunft in deine eigene Karte eintragen?

Ich bin gespannt auf deine nächsten Abenteuerreisen, und wer weiß, vielleicht höre ich ja bald von dir und deinen Errungenschaften. Sei es in der Orthodoxie oder in der Heterodoxie. Und falls wir uns in der Kryptodoxie über den Weg laufen: Hier gibt es nichts zu sehen. Glaub mir. Ich gehe hier jeden Abend spazieren. Möchtest du eine Zigarette?

Michael Schetsche ist Wissenssoziologe und Forschungsmitglied des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Sein Band Panorama des Unsichtbaren ist 2019 im Logos Verlag Berlin erschienen.

Literatur:

Banzhaff, Hanjo (1986): Das Tarot-Handbuch. München: Hugendubel.

Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas (engl. Orig. 1966) (1991): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns Bd. I Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Merten, Klaus (1999): Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Münster: LIT Verlag (Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, 1).

Schetsche, Michael (2019): Panorama des Unsichtbaren. Berlin: Logos Verlag Berlin.

Schetsche, Michael; Schmidt, Renate-Berenike (2016): Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne. In: Rausch Trance Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld: transcript, S. 7–33.

Schetsche, Michael; Schmied-Knittel, Ina (Hg.) (2018): Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung. Köln: Halem.