Harry Potter Studios

Wie wir Magie gezeigt bekommen

Ab wann ist eine Reise eine Pilgerfahrt? Wenn kleinteilige Vorbereitungen getroffen werden? Wenn Kosten und Mühen akzeptiert werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Wenn transzendente Mächte und Wesenheiten am Reiseziel erwartet werden? Wenn bestimmte rituelle Handlungen vor Ort durchgeführt werden?

Sind die Harry Potter Studios der Warner Brothers bei London ein Pilgerort?

Ich habe die Studios im Juni 2019 besucht. Erst beim dritten Versuch ist mir diese Reise gelungen, denn um ein Ticket für die „heiligen Hallen“, respektiv die „große Halle“ zu erwerben, muss nicht nur eine beträchtliche Summe Geld gezahlt, sondern auch früh gebucht werden. Ich habe die Tickets bei diesem geglückten Versuch drei Monate zuvor gekauft und das war keine Woche zu früh.

Die Reise begann also am Vorabend in Mannheim, wo ich wohne, führte dann nach Frankfurt, wo der Flieger nach London Heathrow ging und von da aus in die City von London. Am Tag X brauchte es nochmal 1,5 h mit der Subway aus der Zentrum Londons zu einem außerhalb gelegenen Bahnhof, um von dort aus wiederum mit dem Shuttlebus zu den Studios zu gelangen. Die Anreise hat mich also etwa zwei Tage gekostet und alles in allem für zwei Personen aus Deutschland, Mannheim, um die 500 Euro, Fan Artikel und Essen im Studio nicht mit einberechnet. Wie hoch muss der finanzielle und energetische Preis sein, damit eine Pilgerreise einen Wert hat?

Wer geht in die Harry Potter Studios? Wir.

Der große Doppeldecker-Bus hält auf einem weiten Parkplatz und wir steigen aus, zusammen mit dreißig anderen Besucher*innen. Die Führung und der anschließende Rundgang durch das Studio beginnt um 18 Uhr, es ist die letzte an diesem Tag und wir werden bei diesem Durchgang um die 300 Personen sein. Es sind eine Menge Kinder in der Vorhalle des Studios, die auf dem Teppich unter dem Skelet eines enormen Drachens sitzen, Orangensaft aus Trinkpäckchen saugen und sich Todesflüche mit den neu erworbenen Zauberstäben durch den Saal entgegen schmettern. Es sind aber ebenso viele Erwachsene ohne Kinder da, vielleicht sogar mehr Erwachsene. Ist das verwunderlich für eine Kinder-Fantasy-Reihe?

Als ich 9 Jahre alt war gab es in dem kleinen Städtchen, in dem ich aufgewachsen bin, eine Lesung im historischen Rathaus, einem knorziges Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert. In umfunktionierten Halloween-Capes und mit Blitznarben auf die Stirn gemalt, saß dort die junge Fan-Community der kleinen Gemeinde auf den Holzdielen zusammen und lauschte den Worten der Vorleserin. Unter dem runden Lichtkegel einer Stehlampe saß diese ältere Dame in einem Ohrensessel und ließ uns in ein Kapitel aus „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ eintauchen. Am Ende der Lesung fand eine Verlosung statt, bei der meine Schwester und ich das neu erschienene dritte Buch der Serie gewannen. Später sollte es erbitterte Kämpfe um das Erst-Leserecht dieses Buches geben, bei denen den Kürzeren ziehen würde. Das verzögerte meine Gelegenheit das Buch zu lesen allerdings nur um wenige Tage, danke der rauschhaften Geschwindigkeit, in der es meine Schwester verinnerlichte.

Ein Jahr später kauften wir uns den heiß ersehnten vierten Teil, noch bevor dieser ins Deutsche übersetzt wurde. Harry Potter, Teil IV war mein erster Roman, den ich in Englisch gelesen habe. Wohlgemerkt parallel zu einem Wörterbuch, da die Hälfte der Wörter noch nicht in meinem Sprachwortschatz vorkamen.

Der Zauberer Harry Potter und seine Schulfreund*innen war in den Romanen immer genau so alt wie ich, sodass ich buchstäblich mit ihm zusammen aufgewachsen bin, wie viele andere Europäer*innen meiner Generation. Wenn Harry seine ersten Teenager-Erfahrungen sammelte, haben wir dasselbe getan. Im Grunde hat J.K. Rowling auch unser Leben beschrieben, nur mit viel mehr Drachen und Zaubertränken. Natürlich besuchen wir Harry Potter, jetzt wo wir erwachsen sind.

Symbolismus, Musik und Farben

„Fliegende Kerzen“ in der Kantine

Es gibt Fish and Chips in der Kantine des Studios, dessen Decke mit fliegenden Kerzen erleuchtet ist (die an Nylonseilen hängen) und an deren dunkle Wände in goldener Farbe alchemistische Zeichensysteme gemalt sind. Es wabert die niemals endende musikalische Atmosphäre der Harry-Potter-Welt über das Gemurmel der Stimmen. Das sinnliche und daraus resultierend emotionale Erleben dieses Ortes wird nicht dem Zufall überlassen. Was könnte auch anderes erwartet werden von einem Ort, der die Inszenierung zur Hauptaufgabe hat – einem Filmstudio? Für die insgesamte Choreografie aus Materialität und der sinnlichen Erfahrbarkeit dieser Fantasy-Welt wird diese Kantine allerdings erst der Vorgeschmack sein.

Bei dieser Exkursion betrachte ich den körperlich-emotionalen Erlebnisraums dieses Spielplatzes aus einer sehr spezifischen Brille heraus. Da ich aufgrund meiner Forschung zu gegenwärtiger „westlicher“ Magie eine neue Sprache gelernt habe, und zwar die Zeichensprache des okkulten Symbolismus, kann ich feststellen, dass dieser Ort spricht und ich frage mich, wie diese Sprache hier funktioniert und wer sie wie versteht. Es ist diese Zeichenebene, die einen ästhetischen Beitrag zur Bühne des Geschehens leistet und die mir dieses Mal besonders ins Auge fällt.

Ein kurzer Einblick: Akustik und Ästhetik in der Kantine

Das erste, was ich bereits in dieser Kantine entdecke, sind diese astrologische bzw. alchemistische Zeichen, Runen und die zusammengewürfelte Sigillen im Stile des britischen Malers und Okkultisten Austin Osman Spare. Während die astrologischen Zeichen weitgehend formgleich bleiben, auf bestimmte Planeten verweisen und in magischen Systemen in der Regel auf die damit assoziierten Qualitäten bzw. chemischen Elemente hinweisen, sind Sigillen bereits schwieriger in ihrer Bedeutung zu identifizieren.

Das liegt daran, dass Sigillen in der gegenwärtigen magische Praxis nach Osman Spare in der Regel von ihren Verwendern selbst erstellt werden. Es sind also Zeichen, die zumeist neu erfunden werden und die eine bestimmte Funktion erfüllen sollen. Eine Sigille zu sehen bedeutet eigentlich zunächst nur zu erkennen, dass hier jemand eine magische Arbeit durchgeführt hat, dessen Überbleibsel in Form dieses Zeichens nun sichtbar werden. Diese Sigillen sind nicht selbsterklärend. Obwohl sie in der Logik der Magier*innen wirksam ist, kann aus ihrer Form nicht daraus geschlossen werden, wofür.

Sigille auf der Wand in der Kantine

Die Produktion dieser Sigillen, wenn diskursmächtige Quellen wie Osman Spare, Frater V.D. oder Peter Caroll konsultiert werden, kann auf verschiedenste Weise ablaufen. In jedem Fall ist es der kreative Prozess einer Akteur*in, die aus den Buchstaben eines sogenannten Willenssatzes ein Zeichen bastelt, dieses Zeichen energetisch auflädt und es dann zum Beispiel für eine bestimmte magische Arbeit einsetzt.

Es gab bereits lange vor Spare Sigillen. Diese wurden aber nicht erst hergestellt, sondern als verbindliches Zeichen, beispielsweise für die Anrufung einen bestimmten Dämon überliefert, wie die Sigillen der Ars Goetia. Da es sich bei Sigillen um komplexe Glyphen handelt, braucht es eine Weile, um auszuschließen, dass es eine tradierte Sigille ist, sondern eine neu hergestellte. Um herauszufinden, was nun der Fall ist, braucht es eine Expert*in. Ich bezweifle an dieser Stelle, dass unter den Besucher*innen im Harry Potter Studio viele solcher Expert*innen sind, geschweige denn, dass einige oder gar manche mit den Sigillen der Ars Goetia vertraut sind.

Leviathan Kreuz bzw. Alchemistisches Zeichen für Schwefel

Die alchemistischen Symbole wiederum sind einfacher zu identifizieren. Um ein Beispiel heraus zu greifen: In dieser Zeichnung ist mehrfach das Leviathan-Kreuz abgebildet, das ebenfalls das alchemistische Zeichen für Schwefel ist. Dieses Symbol ist also eindeutig in seiner Form erkennbar, allerdings in seiner Bedeutung uneindeutig. Es könnte sich um den Verweis auf ein (al)chemisches Element handeln, was im Kontext dieser Zeichnung eines Zauberkessels sinnvoll wäre, ebenso wie um den Verweis auf Leviathan, ein Beiname der mythologischen Figur, die häufig bekannter ist unter dem Namen Satan. In satanistischen Kreisen handelt es sich also um ein religiöses Zeichen, das hier äquivalent zu dem christlichen Kreuz in katholischen oder evangelischen Kirchen zu finden ist.

Vor diesem Hintergrund kann es nur zwei Gründe geben, warum diese Zeichen angemalt werden und fairer Weise müssen beide genannt werden: Erstens geht es darum, die Ästhetik von geheimen, okkulten Wissen herzustellen und gerade mit dem Unbekannten zu spielen. Dass die meisten Zeichen nicht erkannt werden, ist nicht das Problem, sondern das Ziel. Denn das Resultat ist ein mystisches „Wer-weiß-was-das-ist“. Die Zuschauer*in taucht darin ab und sieht magische Zeichen, die für sie wie Fantasie-Zeichen aussehen müssen, ebenso wie Kinder „Fantasie-Englisch“ reden, weil sie die Sprache nicht wirklich beherrschen aber die Simulation, das Gefühl Als-ob gerne hervorrufen wollen.

Zweitens könnte es darum gehen, dass die Sprache von irgendwem tatsächlich in ihrer eigentlichen Funktion verwendet wurde. In dem Fall wäre die angezeichnete Sigille nicht allein Dekoration, sondern eine Manifestation magischer Arbeit. Oder mit anderen Worten: Jemand hat seinen Willenssatz auf die Wand der Kantine geschrieben. Wir können weder behaupten, noch ausschließen, dass es so war. Allerdings traf ich auf der ESSWE Konferenz in Amsterdam dieses Jahr einen Magier aus Plymouth, der mit Chaosmagiern der UK eng verbandelt ist, wie sich herausstellte. Ich sprach ihn auf die Sigillen in den Studios an und er grinste nur und sagte: „Ich sage jetzt nicht, dass ich eventuell den Magier kenne, der damals gebeten wurde, die Sigillen für die Eröffnung der Studios anzufertigen.“

Ich weiß nicht, ob er mir die Wahrheit gesagt hat, oder ob er nur ein bisschen angeben wollte, wie viele einflussreiche Chaosmagier er kennt, oder ob es zwar stimmt, aber zu rein ästhetischen Gründen vorgenommen wurde. All das bleibt vorerst eine offene Frage. Was ich allerdings feststellen konnte, ist dass einige Sigillen (wie die oben abgebildete) immer wieder an unterschiedlichen Stellen auftaucht, wie zum Beispiel auf dem Pendel dieser Uhr. Ich habe bisher keine „alte Sigille“ gefunden, die so aussieht (falls jemand mehr weiß, bitte her mit den Infos!). Dann müsste es also eine „neue Sigille“ sein.

Uhren-Pendel mit Sigillen im Rundgang der Studios

Das Spiel mit den Symbolen zieht sich durch die gesamten Studios. Hier sind noch einige weitere Beispiele: Runen, Tiere, Geometrie, Ikonographie.

Neben der Akustik und dem Symbolismus fällt mir noch die Farbgebung auf. Die meisten Räume haben schwarze Wände und darin befinden sich staubige Requisiten in braun, okka, gold, schwarz, grau, grün oder orange. Es ist, als wäre ein ewiger Herbst in den Studios, ein diesig-dunkler Tag, der mal geheimnisvoll-gruselig, mal gemütlich-warm gespielt wird.

Framing: Wie wir einen Rahmen gesetzt bekommen

Es könnte nicht sprichwörtlicher sein, als wir zu Beginn der Führung die „Rahmenbedingungen“ genannt bekommen. Die Masse der Gruppe wird in einen großen Raum geführt, an dessen Wände die Projektion von Bilderrahmen in verschiedenen Größen, Farben und Formen gezeigt werden. Darauf abgebildet sind junge Menschen, die wie es in guter Harry Potter Manier üblich ist, sich bewegen und sprechen können. In anderen Worten: es handelt sich um eine Video-Installation auf mehreren Wänden gleichzeitig.

Die motivierten jungen Frauen und Männer in den Bilderrahmen sprechen mit uns, sie heißen uns Willkommen und reden miteinander über Harry Potter und diese „Ausstellung“. Die Produzenten der Studios lösen die maßregelnde Ansprache geschickt, indem sie die Informationen über Dos und Don´ts in das Gespräch der Menschen einweben. Es gibt kaum direkte Aufforderungen, wie „Wirf deinen Müll nicht auf den Boden“, sondern es wird das Skript dieses Rahmens insgeheim mitgeteilt (in etwa: „Hey, es ist total super, dass es hier ein sauberer Ort ist.“). Im Grunde wiederholen sie die Mechanismen, wie soziales Verhalten in der Regel vermittelt wird: Durch Nachahmung. Sie sind die Vorbilder, die Orientierungsgeber und Opinion-Leader, zu denen wir aufschauen (im wahrsten Sinne, denn die Bilder hängen weit oben, sodass wir sie alle sehen können). Nun geben sie die Handlungsnormen an uns weiter, ganz nebenbei. Und sie tun mehr als das, sie geben auch Vorschläge, wie die Studios zu konsumieren sind und wie als Akteure darin das beste Spiel spielen können. Sie versorgen uns mit Hinweisen, den richtigen Hashtags (#WarnerBrotherStudiosLondon ) und leben die emotionale Bandbreite vor, mit der wir anschließend durch die Räume gehen sollen (und werden).

Das Framing ist ein doppeltes Sicher-Stellen: Zum einen wird abgesichert, dass die relevanten Regeln bekannt sind und in Notfällen alle wissen, was zu tun ist. Zum anderen betreiben die Veranstalter ein effizientes Erwartungs-Management, indem sie uns erklären was wir erleben werden, wie wir uns fühlen werden und was wir dort ausprobieren werden (essen, trinken, durchführen, konsumieren im weitesten Sinne). Wie auch bei anderen Spielplätzen stellt die Orga sicher, dass alle auf demselben kognitiven und körperlichen Weg sind, wenn sie durch die Fantasy Welt schreiten.

Nach diesem Raum werden wir in ein Kino geführt. Wir nehmen auf den Sesseln platz und die Titelmusik der Kinofilme erklingt. Auf der Leinwand erscheint Hogwarts. Das Erleben des Kinofilms wird wiederholt und ein kurzer Film zur Einstimmung erledigt den Rest: Die Gruppe der 300 Gäste ist euphorisiert. Der Film endet mit einer Aufnahme von der Großen Halle, dem Ort wo Hogwarts seine Feste feiert, die Mahlzeiten einnimmt und wo der sprechende Hut die Neulinge in ihre Häuser zuweist.

Die Metapher des Einstiegs in diese Fantasie-Welt findet ihren Höhepunkt, als die Leinwand plötzlich hochgefahren wird und den Weg freigibt. Wir gehen „durch das Bild hindurch“ und stehen in der Großen Halle. Ein Traum wird wahr.

Die Große Halle

Die Katharsis der Pilgerreise

Wie wir die Heiligtümer des Harry Potters konsumieren

Die Studios sind grob gesagt in zwei Hälften aufgeteilt. Der Rundgang beginnt damit, dass die Besucher*innen durch die wichtigen Schauplätze der Filme geführt werden. Er beginnt mit der Großen Halle, führt durch alle wichtigen Räume Hogwarts: das Schlafzimmer und der Gemeinschaftsraum von Griffindor, Dumbledors Büro, das Klassenzimmer für Zaubertränke, Hagrids Hütte und viele mehr.

Griffindor

Gemeinschaftsraum

Dumbledores Büro

Unterwegs können wir Stempel an den wichtigen Stationen sammeln (wie es auch bei dem Jakobsweg Tradition ist), in einer Bluebox auf Besen fliegen und bei den Weasleys magisch die Hausarbeit erledigen, indem wir die Hand über einen Sensor halten. Der Hogwartsexpress ist begehbar. Ebenso sehen wir Tom Riddles Grab, das Ministerium für Zauberei und Hexerei, den verbotenen Wald.

Der Wald ist dunkel, ein verschlungener Pfad führt durch den dicht bewachsenen Ort. Wir sehen immer nur bis zur nächsten Kurve. Nebel steigt auf, wir hören Tier-Geräusche. Der Boden ist weich und gibt nach, bei jedem Schritt. Es riecht nach feuchter Erde.

Im verbotenen Wald

Aus dem Dickicht und Nebel schießen riesige Spinnen hervor, deren große Augen feurig leuchten.

Spinnen. Große Spinnen.

Ein Patronus leuchtet auf (ein großer Wolfshund, der mit Neon-Lichtern umrundet ist. Ohne die Visual Effects sieht er ein bisschen aus wie eine geschmacklose Reklame-Tafel. Ein Hebel am Rand des Weges lässt ihn aufleuchten).

Expecto Patronus.

Oder so.

Gringotts

Dann sehen wir Gringotts, ein herrschaftliches, beeindruckendes Gebäude aus Marmor, Gold und Kristall. Wer aus Versehen oder absichtlich gegen die Wand klopft, merkt, dass es sich um Pappmaschee handelt (wie uns auch der Audio-Guide erklärt). Ein Meisterwerk der Illusion.

Nocturn Gasse

Hogwarts Express

Diese erste Hälfte der Studios endet am Gleis 9 ¾ beim Hogwartsexpress. Wir können durchlaufen, oder einen Moment Platz nehmen im engen Abteil. Es riecht nach Öl und Mechanik, wie ich es erwarten würde von einem Zug, der aussieht als wäre er von Anno 1910.

In der Halle des Bahnhofs am Gleis 9 3/4

Hier ist auch die erste Shopping-Meile und kurz dahinter eine Cafeteria mit Innenhof. Es gibt Butter-Bier, Sandwiches und eine Raucherecke. Und natürlich das Haus der Dursleys, sowie den riesigen roten Doppeldecker Reise-Bus.

Die zweite Hälfte führt die Besucher*innen hinter die Kulisse. Es wird gezeigt, wie die Kostüme, Charaktere, Kulissen und auch die Nachbearbeitung der Filme gemacht wird. Der verzauberte Spielplatz wird auseinandergenommen und der Schleier einiger magischer Momente wird gelüftet. Das OT-Gehen wird beginnt im Grunde mit den ersten Schritten in diese zweite Hälfte und am Ende des Rundgangs, wenn alle Geheimnisse preisgegeben wurden, machen es die Produzent*innen wieder gut, indem sie das märchenhafte mondbeschienene Hogwarts in Miniatur präsentieren (und Miniatur ist immer noch riesig).

Miniatur Hogwarts

So klein ist Miniatur gar nicht.

Das große Finale wird damit beendet, dass wir im Shop rauskommen und dort alles mitnehmen dürfen, was wir schon immer sein wollten, können wollten oder wissen wollten: Kleidung, Zaubertricks, Bücher, Schmuck, Zauberstäbe, Geschenk Ideen usw.

Die Heiligtümer des Harry Potters werden dramatisch inszeniert, um sie anschließend als Konstruktionen aufzulösen. Das Publikum wandelt zwischen IT und OT, zwischen Zauberei und Programmierung. Und niemand muss das Studio verlassen, ohne nicht ein bisschen von beidem verinnerlichen zu können: Durch das Ansehen, die vielen interaktiven Impulse, das wahrhaftig körperliche einverleiben von Speisen und Tränken, das Betreten und sinnlich erleben von Harry Potters Realität und zu Guter Letzt, das Take-away der Magic in Form von Pullis und Notizheften.

Shop till you drop.

Contemporary Western Magic und Harry Potter

Occulture zwischen IT und OT

Harry Potter ist eine Fantasy Reihe, geschrieben in den 2000er Jahren für Kinder von einer britischen Autorin, die bettelarm war zu dieser Zeit. Die Geschichte ist erfunden. Die Charaktere sind erfunden. Die Zaubersprüche sind erfunden. Die Wesenheiten in der Geschichte sind erfunden. Das Harry Potter Studio ist die Konstruktion und De-Konstruktion dieser Fantasie-Welt. Die Studios sind das Mekka der romantischen Illusion, das Santiago de Compostela des magischen Konsums. Harry Potter ist ein Spiel, ein IT, ein Märchen.

Und Harry Potter ist echt. Die 300 Besucher*innen bei der letzten Führung an einem Freitagabend sind echt. Die Verkaufszahlen der Bücher, Filme und Merch Artikel sind echt. Die Tausende oder vielleicht auch Millionen Kinder, die irgendwann in ihrem Leben eine Blitznarbe oder eine kreisrunde Brille an Halloween oder Karneval getragen haben, sind echt. Die Harry Potter LARPs, die es weltweit monatlich gibt, sind echt.

Die Symboliken aus Astrologie, Alchemie, Mythologie, Christentum, Satanismus, Judentum, Paganismus, Pharmazie und allgemeinhin, Okkultismus, die vielfach in den Studios zu finden sind, sind echt. Sie werden in Kreisen selbstreferentieller Magier*innen, religiöser Expert*innen und Anhänger*innen unterschiedlicher religiöser, respektiv spiritueller Kulte tagtäglich eingesetzt. Die magischen Requisiten bei Harry Potter werden echt, in dem Moment, wo Akteur*innen sie für ihre eigene magische Arbeit einsetzen (was ständig passiert). Der Schutzzauber und das quasi-Totem Patronus wird echt, in dem Moment wo Besucher*innen der Website Pottermore online ihren eigenen Patronus „finden“ und ihn über das Spiel hinaus in ihrem Alltag gedanklich einbauen. Die Kleidung und Ästhetik der Figuren des Films werden echt, sobald sie von der Betrachter*in auf der Einkaufsstraße am Samstagnachmittag als magisch erkannt werden.

Wenn wir über tatsächlich gelebte und praktizierte Magie der Gegenwart nachdenken, wird Harry Potter plötzlich von einem Kinderbuch zu einer Bewegung, einer Inspirationsquelle, einer Internalisierung der Idee einer magischen Welt ganzer Generationen. Magie der Gegenwart, beispielsweise in Deutschland oder Groß Britannien ist anders, selbst verständlich. Es fliegen keine Gegenstände durch die Luft. Und aus den Zauberstäben kommen für die Betrachter*in keine neongrünen Funken gesprüht. Ob für die Magier*in in ihrer Imagination dort Funken sprühen, ist eine andere Frage (und überhaupt verwenden die meisten Magier*innen der Gegenwart Zauberstäbe mehr als zusätzliches Werkzeug, anstatt als Quelle ihrer Magie).

Zauberstäbe

Occulture, und ich würde sogar behaupten, Western Contemporary Magic im Allgemeinen, ist genau in diesem Zwischenbereich von IT und OT angesiedelt. Alles ist Imagination. Und daher kann ebenso gut alles echt sein. Der entscheidende Punkt, den die Harry Potter Studios anschaulicher nicht hätten machen können, ist das Erleben der Akteur*in. Die emotionale, sinnliche, körperliche und kognitive Wirklichkeit macht das Spiel real – und macht Harry Potter magisch.

Mein Fazit, nach 20 Jahren mit Harry Potter, endlich am Pilgerort angekommen zu sein:

Schön wars.