Über Kooperation

Als ich 2015 bei einem Gründer-Treffen im KIT Karlsruhe war, sprach ein Berater zu uns, nennen wir ihn einfach mal Peter, der nicht nur Unternehmer, sondern auch Zeitzeuge der goldenen Gründerstunde der deutschen digitalen Wirtschaft war. Der Mitbegründer einer der ersten deutschen Online-Plattformen erzählte aus dem Nähkästchen seiner Berufslaufbahn und gab sein Urteil zu jedem von uns ab, der sich traute seine Idee zu einem Business vorzutragen. In der Manier eines großen, souveränen Mannes ließ er uns der Reihe nach vorsprechen, um dann über Gedeih und Verderb unserer hoffnungsvollen Ziele zu richten. Ein Job, den er mit größter Routiniertheit ausführte.

Ich hatte in seinen Augen doppelt schlechte Karten. Zunächst war ich die einzige Frau, wozu ich mich prognostisch äußern und schließlich rechtfertigen sollte. Peter gestand, dass er in den sogenannten Start-up Pitches Frauenteams grundsätzlich kritischer gegenüberstand, da diese häufig kooperativer und somit risikobehafteter für seinen Return-on-Investment seien. Sie würden sich im direkten Ellenbogen-Kampf um die dickste Scheibe Wurst auf dem Brot viel zu zimperlich anstellen (und ich zitiere hier NICHT wörtlich). Kooperation, so erklärte er uns, sei eine Schwäche in dem Business, bei dem nur einer gewinne und zwar derjenige, der am schnellsten und dominantesten zuschlägt. So ticke die Wirtschaftswelt nun mal, sagte er apologetisch und wusch sich die Hände im symbolischen Unschuldsbecken der Passivität – eine ironische Haltung für einen Mann, der sich zum Impulsgeber der Digitalwirtschaft erklärt. Dass Kooperation erstens eine vorrangig weibliche und zweitens eine geschäftsschädigende Haltung sei, wäre Anlass genug für mich, heute einen beleidigt-reißerischen Text über die patriarchale Gerontokratie zu schreiben. Viel spannender aber als meine Vorbehalte gegenüber Peters Weltbild ist doch meine Beobachtungen zu Peters Einschätzung als Experte seiner Branche, Kooperation sei geschäftsschädigend. Aber dazu später.

Mein zweites Manko in Peters Augen war meine Geschäftsidee. Ich stellte dar, dass es mir um Bildung gehe, und zwar um Kulturwissenschaft. Ich erklärte die Idee, die Wissenschaft aus den Analen ihres Elfenbeinturmes heraus und in die breite Masse der Gesellschaft in ihre praktische Anwendung hinein zu führen – mit einem Bildungsunternehmen. Das Verkaufsprodukt ist also theoretisches Wissen, der Markt ist ein extrem breiter: etwa Berufstätige in heterogenen Team, Personen der Medienbranche, Fachkräfte im sozialen Bereich oder mit Kundenkontakt, Wirtschaftsstrategen mit dem Need für ein breites, sowie tiefes Verständnis von Gesellschaft. Das Medium ist mein Team als Personen in Seminaren und unsere (digitalen) Lehrmaterialien, die wir herstellen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch im letzten Jahr meines Studiums und hatte nur einen sehr grober Sketch meiner Unternehmung. Peter hörte sich meinen knappen Elevator-Speech gelassen an, lehnte sich schließlich auf seinem Plastikpolsterstuhl nach vorne und faltete die Hände zu einem Zelt.

Sein Urteil lautete wie folgt: Das Problem und der Grund für das zukünftige Scheitern meiner Unternehmung sei, dass es sich dabei um Inhalte handele. Mit Inhalten verdiene man kein Geld und noch dazu verlören sie ihre Gültigkeit mit der Zeit. Man müsse sie ständig auf den neusten Stand bringen, was extrem kompliziert und zäh sei. Content sei überhaupt ein schlechtes Geschäftsmodell. Die digitale Wirtschaft funktioniere vorrangig mit Plattformen, die User dann mit eigenem Inhalt füllen konnten. Deswegen sei Facebook auch so ein genialer Schachzug: Einer stellt die Plattform, alle bespielen sie mit ihrem Content.

Aus heutiger Warte betrachtet würde ich sagen, ich war bei der falschen Beratung. Es war ein bisschen, als würde eine junge Köchin mit ihrer Idee für ein Fusion-Restaurant bei Lieferando ihre besonderen Rezeptideen vorstellt, und anstatt einer lohnenswerten Kritik den Vorschlag erhält, eine App zu entwickeln, bei der Gisela und Waldemar aus Giffhorn das Restaurant im Landkreis finden, wo nach ihren Familienrezepten gekocht wird. Das macht Sinn aus Warte von Lieferando. Es hilft nur der Köchin nicht weiter. Luhmann würde jetzt sagen: Es handelt sich um zwei unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Logiken. Dies hat aber auch sein Gutes, denn sonst wäre ich wohl nie auf folgende Beobachtung gestoßen: Was Peter hier beschrieb, ist das, was die Kulturwissenschaft (zum Beispiel mit Andreas Nehring 2006) als einen leeren Signifikanten bezeichnet, wohingegen meine Idee eher ein Signifikat ist. Aber eins nach dem anderen:

 

Die Bezeichnung Signifikant

stammt aus einer deutlich früheren Zauberkiste, und zwar von dem Schweizer Sprachtheoretiker Ferdinand de Saussure, der im ausgehenden 19. Jahrhundert die Zeichentheorie begründete. Neben einigen anderen nennenswerten theoretischen Bausteinen kam er zu der Idee, ein Zeichen – beispielsweise ein Wort – einzuteilen in zwei Ebenen: Die Zeichenhülse oder auch Zeichenform einerseits, und den Inhalt des Zeichens andererseits. Die Zeichenform nannte er Signifikant (das, was wir als bedeutungsvoll erkennen) und den Zeicheninhalt Signifikat (die Bedeutung). Wer jetzt den Wortlaut „Produkt“ hört, um mal bei unserem Beispiel zu bleiben, nimmt also zuerst mal den Signifikanten wahr: Das Geräusch oder vielleicht auch die Buchstaben. Arg verlangsamt könnten wir als nächsten Schritt festhalten, dass diese Person anschließend die Bedeutung dem Geräusch hinzufügt, also Etwa, das käuflich erworben werden kann oder Etwas, das von Menschen hergestellt wird, oder Etwas, dem ein bestimmter kapitalistischer Wert zugesprochen wird etc. Tatsächlich funktioniert dieser zweite Schritt sehr viel schneller, quasi schon zeitgleich und automatisiert. Der Clou an der Signifikant-Signifikat-Beziehung ist, dass es keine selbstverständliche Beziehung ist, sondern eine, die so vereinbart wird im Diskurs. So kommt es auch, dass zwei Menschen „Produkt“ sagen, und der eine prototypisch an spanischen Ziegenkäse denkt und der andere an eine Rockband. Aus diesem Grund sagt die Kulturwissenschaft auch, ein Begriff wird mit einer Bedeutung gefüllt.

 In diesem Kontext steht auch die Bezeichnung des „leeren Signifikanten“. Damit ist die Beobachtung gemeint, dass eine Zeichenhülse von seinen Nutzern nach Belieben und völlig unterschiedlich gefüllt wird – dass es also keine automatische und klar abgegrenzte Art und Weise gibt, ein Wort zu verstehen, sondern, dass ein Signifikant für sich stets solange leer bleibt, bis ein Zeichennutzer ihn mit einem Signifikat, einer konkreten Bedeutung füllt. (Auch) deswegen ist miteinander sprechen so schwierig.

Online-Plattformen wie Facebook sind in gewisser Weise ein fabelhaftes Sinnbild für den leeren Signifikanten: Ein Facebook-Profil ist erstmal leer, bis es sein Nutzer mit Inhalt und Bedeutung füllt. Die Timeline ist leer, bis jemand etwas rein posted. AirBnB ist leer, bis jemand sein Appartement anbietet. Amazon ist leer, bis jemand seine Kochbücher und Laptoptaschen hochläd. Ebay, Liferando, Tinder, Blendle, Samsung Health, iTunes und so weiter sind leer, bis Content-Anbieter ihre Signifikate hinzufügen.

 

Moving on

Peter war damals derjenige, der sein Geld mit Signifikanten verdiente, die andere dann mit dem Signifikat ihrer Wahl füllen können. Fair enough. Ich bin diejenige, die ihr Geld mit der Vermittlung von Inhalten verdient. Und wie soll das gelingen, ohne die Zeichenhülsen, die meine Signifikate transportieren? Wenn einer von uns dem anderen seine Haltung vorwirft, wäre es ein bisschen so, als würden Vertrieb und Produktion sich gegenseitig für unzulänglich erklären. Tatsache ist doch, dass die Signifikant-Signifikat-Beziehung nur in ihrer Gleichzeitigkeit erfolgsversprechend ist – und ist das nicht im Grunde Kooperation? Und ist Peters Geschäft völlig unabhängig vom Content?

Heute, drei Jahre später also, war der große Tag, an dem ich das manager magazin aufschlug und ausgerechnet in der Kategorie „Trends“ einen Artikel darüber las, dass Plattform-Anbieter wie Lieferando, AirBnB, Uber, Amazon und schließlich sogar Facebook (!) ihre Strategie der leeren Plattform überdenken, denn ihre Kunden wandern ab. Das bisher rein digitale, sogenannte Asset-freie Business (das Geschäft ohne Wirtschaftsgüter, oder in den Worten meiner Disziplin, das Geschäft mit dem leeren, amorphen Signifikanten) kommt an seine Grenzen. Wenn es mehrere vergleichsweise ähnliche Signifikanten gibt, die sich nicht durch Signifikate unterscheiden oder hervorheben, weil sie per Definition darauf verzichten, verteilt sich die Kundschaft oder wandert schlicht weg ab – und zwar dorthin, wo sie für sich attraktive Signifikate finden. Wenn sich also alle von Peter beraten lassen, stehen sie irgendwann vor der Krise der leeren Plattformen, die im Grunde eine Krise der vernachlässigten Signifikant-Signifikat-Beziehung ist. Es ist also eine Krise der fehlenden Kooperation. Und was nun?

Liferando kauft Container an Stadträndern und betreibt darin eigene Küchen oder stellt Logistik zur Verfügung (also Fahrer und Fahrräder), um dort das Versprechen von Essenskonsum einzulösen, wo die gastronomische Infrastruktur bisher nicht die nötigen Inhalte liefert. AirBnB kauft Gebäudekomplexe, weil in den beliebtesten Urlaubszielen das Mieten von Wohnungen allein für diesen Zweck politisch untersagt wurde (zum einen) und weil die anspruchsvollen Kunden Mindeststandards erwarten, die längst nicht immer gegeben sind (zum anderen). Content ist Quality, und die gibt man nur solange aus der Hand, bis der Markt mehr erwartet als gar nichts oder das, was passiert, wenn sich keiner darum kümmert. Uber hat jetzt, ganz entsprechend der Markenidentität des subalternen Anders-Denkers und Nachhaltigkeitspropheten, einen Kaufauftrag über 24 000 Volvos abgegeben, davon in London ausschließlich E-Mobile, denn das Do-it-yourself Taxi-Alternativunternehmen kann den Bedarf des Marktes nicht mehr an den Markt selbst abgeben. Oder in anderen Worten: Es kann nur derjenige ein Ass aus dem Ärmel schütteln, der vorher eins hineingesteckt hat.

Medienanbieter wie Amazon, Netflix oder Sky haben das schon länger erkannt. Amazon stellt bereits seit einiger Zeit eigene Produkte her und hat auf diese Weise nicht nur seine Markenidentität aufgebessert (vom unmoralischen Zeitarbeiter-Kapitalisten zum Trendsetter und Entertainment-Profi; wer eine Alexa zuhause stehen hat oder die Amazon-Serie von Matthias Schweighöfer verfolgt, weiß, wovon ich spreche). Netflix hat diese Strategie von Beginn an verfolgt. Warum ich Netflix habe und nicht Amazon Prime? Wegen hauseigenen Produktion wie House of Cards, Gilmore Girls (die letzte Staffel) und jeder Menge Stand-Up Comedians, die nur hier verfügbar sind. Warum ich dann irgendwann noch Sky abonniert habe? Wegen Game of Thrones. So einfach.

Und was ist nun mit Facebook, Peters Lieblingsbeispiel: Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens widerspricht dem Grundsatz, dass Kooperation unwirtschaftlich ist – selbst unter Signifikanten. Wer sich bei Spotify, Blendle, Lifesum, Pinterest oder Instagram (um nur wenige Beispiele zu nennen) mit seinem Facebook-Profil anmeldet, anstatt ein neues Profil mit Passwort zu erfinden, erlebt aus der Nutzerperspektive wie angenehm (oder gruselig?) die Vernetzung der Signifikanten sein kann. Die schönste Geschichte ist aber, dass Facebook nun ebenfalls Signifikate herstellt. Filme, um genau zu sein. Das Ziel: „Nutzer länger in der App“ halten. Facebook reagiert hierbei sicherlich auf die Abwanderung der Aufmerksamkeit zu interaktiveren oder schlicht neueren Plattformen, wie Snapchat oder Instagram.

 

Woran liegt das?

Die Idee, dass Menschen am liebsten sich selbst konsumieren ist ja zunächst nachvollziehbar. Aber wer die Signifikat-Produktion unkontrolliert an Dritte abgibt, kann nicht davon ausgehen, dass dabei nur attraktive, interessante, leckere oder gemütliche und vor allem ausreichend viele Inhalte entstehen. Der Spaß am Signifikanten ist ja nun mal der Signifikat: die Bedeutung, der Inhalt, die Symbolik, der Wert. Ein Zeichen verliert seine Relevanz, wenn es versucht, alles zu bedeuten. So verliert eine Plattform ihre Relevanz, wenn sie versucht, nichts mehr zu bieten. Nichts als den Raum für alles Mögliche. Das scheitert entweder, weil alles Mögliche nur noch verranzte, uncharismatische Abstellkammern in der Vorstadt Leverkusens sind oder nervig-süße Katzenvideos und Kalendersprüche aus dem Jahr 2014, oder weil alles Mögliche ganz einfach zu wenig ist.

Oder mit anderen Worten: Nichts ist irgendwann einfach nicht mehr genug. Die Antwort auf die Stoßgebete der Konstrukteure leerer Signifikanten, die andere mit symbolischen Bedeutung und Inhalt füllen sollen, ist also entweder selbst symbolische Bedeutung und Inhalt herzustellen oder im Meer angebotsleerer Optionen zu versinken. Wie soll das gelingen, wenn ich nie ABC gelernt habe, sondern nur 0100101? Die Antwort lautet: Kooperation!

Peter kann sein Blick auf die Wirtschaft nicht vorgeworfen werden, denn aus der Logik der IT heraus hatte er Recht, was die Signifikanten betrifft. Ich habe glücklicherweise den Hang zum Trotz und mich dennoch für das Bildungsunternehmen entschieden. Heute kann ich von seiner Einstellung lernen, wenn ich an das Transportieren meiner Inhalte denke. Aber es gibt doch zwei Punkte, in denen ich mit gutem Gewissen sage, er hatte Unrecht.

Erstens halte ich für eine Fehleinschätzung, dass Kooperation grundsätzlich unwirtschaftlich sei. Ganz im Gegenteil würde ich sogar behaupten, eine Signifikant-Signifikat-Kooperation ist langfristig existenziell. In einer Welt mit immer mehr Konsumoptionen sind beide Systeme gefordert: Produktion UND Vertrieb. Die gegenwärtige Entwicklung im Asset-freien Wirtschaftssektor der digitalen Plattformen bestätigt diese Einschätzung ebenso sehr wie die Semiotik, die Zeichenlehre Ferdinand de Saussures.

Der zweite anachronistische Trugschluss (der hier nicht unerwähnt bleiben soll) ist, dass Frauen den Return-on-Investment gefährden, sei es mit einer kooperativen Haltung, fehlender Dominanz oder der falschen Streitkultur. Die Tatsache, dass ein Mensch ein bestimmtes Geschlechtsorgan oder eine bestimmte Zusammensetzung an Hormonen aufweist (was beides bei einem Start-up Pitch nicht sichtbar werden sollte) ist nicht mit der Fähigkeit gleich oder ungleich zusetzen, Cash zu machen. Alles andere ist Zuschreibung, Sozialisierung und Gewohnheit – und zwar vorrangig von Peter. Er, der am liebsten solche Personen in den wirtschaftlichen Erfolg zu befördert versucht, die in Art und Idee ihm gleichen, der sich also im Grunde in die Geschichte der deutschen Wirtschaft einschreibt, indem er seinen eigenen Weg hundertfach nachperformen lässt, erschafft sich ein Erbe, dass er anschließend zur Legitimierung und Bestätigung seiner Behauptung heranziehen kann. Und Peter ist hier ein Stellvertreter-Diskurs für eine Praktik, die wir an vielen vergleichbaren Stellen beobachten können. Diese Behauptung halte ich zudem für eine selbsterfüllende Prophezeiung von jemanden, der nicht nur Gatekeeper für Start-up-Teams ist, sondern auch noch Berater und somit den Standard für kommende Generationen beeinflusst.

Was es hier braucht, ist genau das, was Peter sich so sehr wünscht: unkooperative Dominanz in der Sache. Frauen haben in Start-ups nichts zu suchen?  Lass mich mit einer Signifikant-Signifikat-Kooperation antworten. Es handelt sich dabei um ein fabelhaftes, der deutschen Sprache sehr eigentümliches Wort, dass meine Antwort ganz wunderbar zusammenfasst.

doch