Du bist da

Ich hab schlecht geträumt, sage ich dir und du kannst gerade nicht sehen, wie schlimm es wirklich ist. Es war einer der Träume, in denen ich das Oben und das Unten verliere. Ich bekomme keine Luft mehr, egal, wie wild ich mit meinen Armen wirbele. Ich kann nur still werden und die bleierne Schwere fühlen, die mich auf den Grund zieht.

Ich denke an diese Schwere, während ich mich anziehe und während ich den ersten Kaffee trinke. Ich sehe sie draußen an der Scheibe kleben. Sie sagt mir, dass ich nicht mehr nach Hause finde. Ich hab dir erzählt, dass ich gerade nicht mehr genau weiß, wo es lang geht. Du weißt nicht wirklich, was los ist und ich auch nicht. Aber der Unterschied ist, dass du es nicht weißt, weil ich nicht nach Hause komme und ich es nicht weiß, weil ich den Weg nicht mehr vor mir sehe.

Ich rufe dich an und erzähle dir erst, dass es Probleme gibt und dann nicht welche. Du suchst nach denen, die dir einfallen und ich will wieder auflegen. Aber du lässt mich nicht. Du bist da und du suchst mich. Ich kann dir nicht wirklich dabei helfen. Ich finde nur, dass du weiter unten gucken solltest. Dort, wo du mich sonst nicht suchst.

Du stocherst im Dunklen und ich versuche dir zu entgehen. Ich hab Angst, dass du ins Schwarze triffst. Und dann, als ich dich fortschicken will, greifst du schließlich nach mir. Sachte tastest du mit deinen Fingerspitzen die Tiefe ab. Ich bin unsicher, ob ich dir ausweichen soll. Aber du bist so ruhig, so langsam und so vorsichtig, dass ich dich mich finden lasse. Du legst einen Finger nach dem anderen um mich, bis du mich in deinen beiden Händen trägst. Es dauert eine Weile bis du das geschafft hast. Ich zappele herum, beschwere mich um zurück zu fallen in die Dunkelheit der Tiefe. Aber du bist geduldig. Wieder und wieder tastest du nach mir. Wieder und wieder hältst du meine Rückschläge aus. Du wartest und probierst, bis ich mich schließlich von dir mitziehen lasse. Du hebst mich vorsichtig hoch. Nicht zu schnell, nicht zu eilig. Du weißt, dass die Chance besteht, dass ich von der Helligkeit geblendet zurück falle. Du weißt, dass ich von dem Gegenstrom mitgerissen aus deinen Händen fallen könnte. Du bist da. Und du bleibst bei mir, bis ich mich erholt habe.

….

Ich habe schlecht geträumt, sage ich dir und du bist besorgt um mich. Du fragst, was genau es für ein Traum war und warum er mir Angst gemacht hat. Ich zeige dir, wo ich untergegangen bin und dass ich nicht mehr weiß, wie ich hoch finde. Du sagst mir, du wüsstest, ich finde meinen Weg nach oben.

Und dann tauchst du neben mir auf. Du hast dir einen Taucheranzug besorgt, eine ganze Ausrüstung. Und ein Sauerstoffgerät für mich mitgebracht. Ich greife zögerlich danach und setze es mir auf. Es ist dunkel hier unten, sagst du zu mir und ich gebe dir Recht. Was meinst du, sollen wir ein bisschen Licht machen? Ich nicke und meine Haare fliegen in einer Wolke über meinem Kopf. Du hast eine Taschenlampe mitgebracht und ich finde ein paar Batterien in meinen Taschen.

Du schwimmst voraus und ich hinter dir her. Während du nachdenklich auf die dunklen Steine und Pflanzen deutest, beginne ich, sie dir zu erklären. Ich sage dir, woher sie kommen und warum sie hier stehen und wachsen. Du fragst mich, wozu sie gut sind und ich weiß es selbst nicht. Dann schwimmen wir um sie herum und du überlegst für mich. Mit der Lampe leuchtest du ihre Ecken und Winkel aus. Es sieht abenteuerlich aus hier unten, sage ich. Und du nickst und antwortest: Abenteuerlich und wunderschön. Und jetzt, wo das sagst und hierin leuchtest und dorthin leuchtest, kann ich es auch sehen. Ich bewege mich mit dir durch diese Landschaft. Du bist da. Und während du sie spannend genug findest, um dich mit ihr zu beschäftigen, fange ich an, sie immer besser kennen zu lernen. Sicher, sie ist eigenartig. Aber sie ist auch abenteuerlich und wunderschön. Und ich fühle mich immer mehr wie ich selbst hier unten.

Ich habe schlecht geträumt sage ich dir und du schickst mich zurück ins Bett. Dann mach nochmal, sagst du. Ich halte solange Wache. Du bist da. Und ich gehe nochmal schlafen.

Ich habe schlecht geträumt sage ich dir und du holst einen Vodka aus dem Gefrierschrank und knipst die kleine Lampe auf deinem Küchentisch an. Sie ist orange und hat einen gefalteten Lampenschirm. Erzähl mal, sagst du und hörst mir zu. Ich erzähle von der Schwere und der Tiefe und der Angst, nie wieder Heim zu finden. Du legst deine zarten Finger um meine Wangen und mit deinen großen blauen Augen siehst du mich an und sagst: Darling, du bist die beste Schwimmerin, die ich kenne! Und dann besprechen wir die Techniken des Tauchens, des Schwebens im Wasser, des Sich-Treiben-Lassens und die Wasserqualität in der Tiefe des Ozeans. Du lässt mich die Wassertemperatur schätzen und mit jedem Glas und jeder weiteren Stunde bei dir wird sie wärmer. Du bist da. Und mit der Zeit wird mein Wasser ein Jacuzzi, in den wir uns frische Trauben und eine große Portion Schaum liefern lassen.

Ich hab schlecht geträumt sage ich dir und du hörst dir meinen Bericht an. Du lässt mich lange reden, bis du einen ersten, vorsichtigen Versuch wagst. Du fragst mich, ob du was dazu sagen darfst. Ich hänge an deinen Lippen. Und dann fluchst du wie der letzte Berserker. Du lässt eine Salvine aus scharfsinnigen Beobachtungen und derben Urteilen von dir und ich muss so laut lachen, dass ich an die Oberfläche gespült werde. Wir setzen uns in ein Schlauchboot und während wir uns über die Wellen gleiten lassen, amüsieren wir uns über die Abgründe der Psyche und die Normalität des Sich-Hin-und-Wieder-Verlierens. Du bist da und segelst mit mir aufs Meer hinaus. Wer weiß, was wir noch alles entdecken werden auf dieser Reise.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert