Lernen auf dem Spielplatz
Ich habe eine preußisch-bürgerliche Erziehung genossen. Mein Opa war Hauptmann im Bund, meine Oma kleinbürgerliche sparsame Nordhessin, mein anderer Opa disziplinierter Migrant aus Griechenland, später Neurologe in diesigen Münster, Westfahlen. Wenn es nicht meine lustige, kindliche und kreative Oma aus Wien gegeben hätte, wäre ich vielleicht ein hoffnungsloser Fall. Gegenüber Nicht-Familie sind meine Eltern eine wundervolle Mischung aus völliger Distanziertheit (mein Vater) und emotionaler Überschwänglichkeit bei dennoch gleichbleibender körperlicher Distanz mit gelegentlichen Ausfällen einer warmen Umarmung (meine Mutter).
Ich bin darüber hinaus Kind meiner Zeit und Raums, einer verwöhnten kapitalistisch-selbstoptimierten mittel-nordeuropäischen Generation, die zwischen geistigem Größenwahn und körperlicher Unsicherheit hin und her pendelt. Body Issues gehört nicht nur zum Standard-Repertoire unserer Kohorte, sie manifestieren sich darüber hinaus auch in unserem Verhalten. Wir haben Angst.
Die Angst hat ein Spektrum, das sich erstreckt zwischen der Sorge, nicht schön genug zu sein (vielen Dank für diesen wundervollen Song Martin Haller), und der Angst invasiv vereinnahmt zu werden ohne unseren Konsent, entgegen unsere Einwände. Während das eine seinen Ursprung in idealisierten und einheitlichen Körperbildern des bereits erwähnten Kapitalismus haben dürfte, liegt die bittere Ausgangslage für die zweitere Angst bei einer Vielzahl von Missbrauchsfällen, die unsere Mütter und Väter aufgedeckt haben und die wir uns trauen, zu benennen und gegen die wir rebellieren (#metoo, One Billion Rising). Mit anderen Worten: Wir haben gute Gründe für unsere Angst. Wir haben gute Gründe für die daraus erwachsene Wut.
Welche Dynamik ergibt sich daraus? Dass wir Body-Shaming betreiben, als wollten wir unseren Schmerz weitergeben an die nächsten. Dass es uns ins Auge fällt, wenn jemand „nicht passt“. Dass wir kaum dazu kommen, einen eigenen Geschmack zu entwickeln, der eine idealisierte Körperform unterwandern darf. Jedes Mal, wenn wir eine Bemerkung über die körperlichen Misfits um uns herum machen, führen wir uns unsere eigene Dressur vor Augen. Wir sind gehorsam, indem wir abwerten. Das ist ein Thema für sich.
Eine andere Dynamik ist, dass wir Körper-Kontakt nicht gelernt haben. Es gibt vielerseits einen mechanisch-verstockten Umgang mit Körpern. Aus der Angst Opfer von Sex-Macht-Befriedigungs-Dynamiken zu werden, selbst übergriffig sein zu können oder grundsätzlich körperlich unerwünscht zu sein, waren wir die Distanz. Berührungen werden misstrauisch registriert. Wie war das jetzt gemeint? Welche Form der Interesse wird hier zum Ausdruck gebracht? Darf der/ die das? Muss ich mich jetzt schützen? Muss ich jetzt meine Freundin/ meinen Freund schützen, die/der gerade berührt wird?
Ich kenne diese Angst. In meinen engen Kreisen pflege ich einen liebevollen körperlichen Umgang, meine Freunde und Familie werden von mir beschmust. Außerhalb dieses Kreises, wie ich es zuhause gelernt habe, empfinde ich einen geradezu körperlichen Schmerz, der mir die Luft abdrückt, wenn mich jemand unvorhergesehen berührt. Eine Mischung aus Wut, Ekel und Angst legt sich über mich, wenn jemand einen sneaky move macht: Sich körperliche Nähe mit mir ergaunert, in engen Bars, bei einer Umarmung zur Begrüßung, in der U-Bahn. Einmal hat mich jemand in einem Club im Vorbeigehen auf den Mund geküsst und ist dann davon gerannt. Es ist nicht, dass ich nichts von mir geben will, sondern es ist so, dass ich nichts gestohlen bekommen will. Es macht mich so wütend, weil ich Freundinnen habe, die so und ähnlich unter die Räder gekommen sind. Und was mich besonders wütend gemacht hat, war die Angst, die ich in mir selbst herumgetragen habe. Meine Art mit Angst umzugehen, ist in der Regel das größere Monster zu werden. Ich habe angefangen Kampfsport zu machen und bin dann übergegangen zu Kraftsport. Meine Psychologie-Freundinnen sagen, das läge in meiner Natur, weil ich Enneagramm-Typ 8 sei. Eine nette Art zu sagen, dass ich cholerische Züge habe.
Jetzt bin ich Kulturwissenschaftlerin, die im Feld forscht. Und meine Forschungsfelder sind simulative Spielplätze und Magier. Ich forsche dort, wo Körper-Kontakt und Körper-Praxis eine zentrale Rolle spielen. Und wenn ich zu Beginn noch dachte, ich könnte entspannt von der Seite aus beobachten, wurde relativ schnell deutlich, dass ich ebenso von der Seite aus beobachtet werde. Forschen ist, wie ich feststellen musste, ein wechselseitiger Prozess. Dort hingehen und nicht dort sein (geistig und körperlich) ist ganz einfach unmöglich.
Unbeabsichtigt habe ich nicht nur Daten gesammelt, sondern von den Akteuren im Feld Sozialverhalten gelernt, das ich vorher nicht kannte, weil ich es in einem solchen Rahmen nie erlebt habe.
Zu der Angst vor eigener Körperlichkeit und Nähe
Ich habe mich vor allem zu Beginn der Forschung permanent außerhalb meiner körperlichen Comfort Zone befunden. Mich selbst zu präsentieren in knappen Kostümen im LARP oder emotional tiefgreifende Rituale im Tempel zu erleben mit im Grunde zunächst fremden Menschen war hart.
Diese Forscherinnen-Perspektive war gleichermaßen Motivation wie Absicherung. Wo ich sonst zögerlich gewesen wäre, hat die Neugierde gesiegt. Wo ich sonst Angst hatte als Privatperson abgewertet zu werden, hat die Rolle der Wissenschaftlerin keine Angst. Ich muss dem Feld nicht gefallen, dachte ich mir. Das hat es leichter gemacht. Das war mein Push. Das Pull aus dem Feld war aber eigentlich die größere Überraschung. Hier habe ich Menschen getroffen, die egal mit welcher Form und Ästhetik, eine Leichtigkeit mit sich selbst, ihrem Körper und dem Kontakt miteinander gelebt haben. They didn´t give a fuck. Die Haltung der Selbstverständlichkeit, zu sein wie sie sind, und die unverkrampften Haltung, die eine Subkultur und ein markierter Spielplatz für sich entwickeln kann, war heilsam zu sehen.
Welche Veränderung hat diese Beobachtung bei mir selbst ausgelöst?
Ich habe nach etwa einem halben Jahr der Forschung begonnen, mich selbst regelmäßig mit weiteren unangenehmen Situationen zu konfrontieren. Im Sommer habe ich Hot-Pans getragen, zunächst nur wenn ich mit meinem Hund im Wald Gassi gegangen bin. Irgendwann auch an öffentlichen Orten wie der Stadt oder in Bars. Ich habe mich überreden lassen, ein Fitnessstudio zu betreten, wo ich Sport mit vielen anderen Menschen treibe, die mich sehr genau anschauen. Ich habe immer häufiger Situationen provoziert, bei denen ich gesehen wurde. Es ging dabei nicht darum, möglichst hart an der Kante zur eigenen und fremden Provokation zu leben. Es ging um eine selbst auferlegte Verhaltenstherapie zum Thema Körperlichkeit. Ich habe versucht, diesen Schmerz auszuhalten, bis es kein Schmerz mehr war. Weil ich sowohl die Angst vor fehlender Impulskontrolle Fremder als auch die Angst vor Abwertung es ein Unding empfinde.
Empowerment durch Forschung, damit habe ich nicht gerechnet. Aber im Grunde war es das Wachsen am Fremden. Nichts anderes unterrichten wir in unserem Diversity Training.
Zu der Angst vor Übergriffigkeit
Gerade weil Körperlichkeit an so prominenter Stelle steht, machen sich die Personen in diesen Kreisen Gedanken darüber, wie das Wohlbefinden des/der Einzelnen garantiert bleibt. Beide Forschungsfelder haben gemeinsam, dass sie in einem Save Space stattfinden. Der gesetzte und verhandelte Rahmen des Spielplatzes oder des Tempels erlaubt Freiheiten, weil er Grenzen hat. Wer den Spielplatz betritt, geht bewusst in einen markierten Raum. Handlungen werden hier bewusst inszeniert und überwacht. Sie haben häufig einen symbolischen Wert. Sie werden überdeutlich ausgespielt und dadurch bewusst reflektiert – ein doppelter Boden, der OT zumeist fehlt.
Wer sich im Spiel prügelt oder Sex hat, simuliert nur und kann von dort aus Schritt für Schritt und situativ verhandeln, wie weit gegangen wird. Wenn jemand im LARP eine intensive emotionale Reaktion beim anderen auslöst oder plant etwas zu tun, das sich so auswirken könnte, gehen Spieler*innen häufig kurz OT (aus dem Spiel heraus) um das zu klären: Ist das ok für dich? Geht´s dir noch gut? Brauchst du eine Pause? Wer im Ritual „ein Opfer bringt“, kann sich entscheiden, es symbolisch zu tun, es zu visualisieren oder tatsächlich etwas von sich herzugeben. In Gruppensettings hat jede/r einzelne die Möglichkeit, am Rand stehen zu bleiben oder sich voll und ganz ins Getümmel zu werfen. Nach Ritualen finden Sharing-Runden statt, in denen sich die Partizipant*innen Feedback geben. In der Feldforschung habe ich verstanden, dass es nicht der Vertrautheitsgrad ist, sondern die Art und Weise der Berührung, die Situationen übergriffig werden lässt. Das Zauberwort heißt Respekt. Und der kommt mit Vorsicht. Vorsicht heißt nicht Stillstand oder völlige Kapitulation vor der Angst. Es heißt Vorsicht.
Dieses „Reden über Gefühle“, die sich auf Körperlichkeit beziehen, scheint außerhalb dieser Orchideen-Orte völlig ungeübt zu sein. Ich kann in meiner bürgerlichen OT-Welt regelmäßig beobachten, wie sich Menschen auf die Füße treten, weil sie sich ungeschickt näher kommen als gewollt oder nicht so nah kommen, wie sie eigentlich gerne würden. Warum sprechen wir nicht über unsere körperlichen Wünsche und Grenzen?
Der Unterschied ist, dass wir im Spiel das soziale Skript adressieren können, weil wir wissen, dass wir spielen. Es ist ok zu sagen „nicht so, aber gerne so“, weil niemand persönlich verletzt wird (es gibt den doppelten Boden eines „gespielten Charakters“). Und es ist scheinbar im Spiel natürlicher, auf der Metaebene die Funktionsweise des Spiels anzusprechen. In der Alltagsrealität fehlt diese Ebene. Korrekturen, Feedback und Hinweise zerstören die Fantasie der Eindeutigkeit einer Situation. Sie stellt die Alternativlosigkeit infrage. Sie rückt die Welt in die Vagheit eines Spielplatzes: Es könnte auch anders gehen. Vielleicht wissen wir oft nicht, wie es anders gehen könnte, weil wir uns selbst und die Gegebenheit der Umstände viel zu ernst nehmen.
Hinzu kommt, dass wir dank des platonischen Erbes und der darwinschen Überlegungen Körperlichkeit als das verkümmerte Überbleibsel einer voranschreitenden geistigen Evolution verstehen. Kontakt soll geistig stattfinden, oder ist schmuddeliges äquivalent zu Sex, der außerhalb der öffentlichen Sichtbarkeit in heterosexuellen Paarbeziehungen stattfindet. Nicht sexueller Körper-Kontakt findet zwischen Familienmitgliedern mit großem Altersunterschied statt, oder ist irgendwie suspekt. Ein Ordnungssystem, indem nur Intellekt oder Trieb existiert.
Es ist diese wunderschöne Geschichte des Homo Sapiens, der seinen Kopf vom Boden der Kriechtiere in die Höhe der Dichter und Denker bewegt hat. Körperliche Bedürfnisse und Realitäten zu benennen ist wie ein Abgesang der Hochkultur, so scheint es. Anders herum sind die alltäglichen Erinnerungen unserer animalischen Natur ein Schandfleck auf dieser verträumten weißen Weste, den es zu verbergen gilt. Essen, Schlafen, Verdauen, Sex, Krankheit, Sterben, Zärtlichkeit, Gewalt, all das sind Vorgänge der Körperlichkeit, für die wir ein elaboriertes kulturelles System entwickelt haben, in dem Zeit, Raum und Form genau festgelegt ist. Abweichungen werden mit sozialer Sanktion bestraft, meistens in Form einer Selbst-Bestrafung: Wir schämen uns. Wir beobachten hier die kulturelle Kontrolle des Unkontrollierbaren.
Zurück zu den magischen Spielplätzen. Wie ein hervorquellendes Vakuum in einer dicken Suppe der kulturellen Konventionen finden wir hier genau das: einen kontrollierten Raum des Kontrollverlustes. Die abgesteckten Gummiwände des Spielplatzes ermöglichen den Akteuren, sich ihren Dämonen zu stellen, die sie sonst nicht wagen zu betrachten. Die Körperlichkeit ist sicherlich nur ein Beispiel dafür.
Diese Beobachtung lässt mich als Systemikerin vor allem dafür plädieren, Übungsplätze zu erschließen, die wir auch noch betreten dürfen, wenn wir keine Kinder mehr sind. Was die Spieler*innen und Magier*innen sich selbst gönnen, ist ein Raum für ihre Biester. Ich habe bereits eine Vielzahl von emotionaler Arbeiten beobachtet und begleitet, die durch die Konfrontation im Spiel erst möglich wurden.